
Der Alterungsprozess ist in westlichen Kulturen tendenziell nicht gerade positiv konnotiert – ältere Menschen seien etwa verbittert, unglücklich oder griesgrämig. So jedenfalls gestalteten sich meine früheren persönlichen Stereotype gegenüber Menschen fortgeschrittenen Alters – hauptsächlich geformt durch typische Narrative in meinen Lieblingsserien, -filmen und -büchern.
Entgegen meiner kindlichen Annahmen weisen wissenschaftliche Studien tatsächlich auf ein eher gegenteiliges Muster hin: Ältere Menschen zeigen sich in der Forschung zum menschlichen Wohlbefinden tendenziell sogar glücklicher als jüngere. Mir wurde damit während meines Studiums der Psychologie zum ersten Mal der Unterschied zwischen alltagspsychologischen Annahmen und wissenschaftlich fundierten Aussagen vor Augen geführt. Natürlich erregte der Befund nicht nur mediale Aufmerksamkeit, sondern bewegte auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu, sich mit der Zufriedenheit im höheren Alter auseinanderzusetzen. Erste entsprechende Untersuchungen lancierte beispielsweise Laura Carstensen, die im Bereich der Gerontopsychologie als Koryphäe gilt. Bei ihren anfänglichen Untersuchungen stiess sie auf ein Phänomen, das sich in der psychologischen Wissenschaft alsbald als „Positivitätseffekt“ etablierte: der Effekt, dass ältere Menschen im Vergleich zu jüngeren stärker auf positive Informationen fokussieren und negative Informationen eher vermeiden. Mit dem Phänomen setzte ich mich im Rahmen meiner Bachelorarbeit auseinander, und seither blicke ich als 26-jährige Jungerwachsene meiner Zukunft mit etwas strahlenderen Augen entgegen.
Lächelnde und traurige Gesichter
Der Positivitätseffekt wurde zunächst vor allem bei Erinnerungsaufgaben an glückliche, neutrale oder aber traurige Gesichter festgestellt – so zeigte sich in Carstensens Untersuchungen, dass sich ältere Probandengruppen vergleichsweise an mehr glückliche und weniger traurige Gesichter erinnerten als jüngere Probandengruppen.
Bald erwiesen sich ähnliche Resultate auch bei anderen Informationsverarbeitungsprozessen, gemäss derer ältere Menschen dazu neigen, sich eher positiven Stimuli zu widmen als negativen. Dies übrigens ganz im Gegensatz zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Hier ergibt die empirische Befundlage sogar einen eher umgekehrten Trend!
Alterndes Gehirn oder limitierte Zeitperspektive?
Hinsichtlich der robusten Studienlage gilt der Positivitätseffekt mittlerweile als empirisch belegt, worauf sich der Fokus zunehmend auf dessen Ursachen verschob. Dabei wurde vor allem erforscht, ob der Effekt auf altersbedingte Gehirnfunktionen zurückzuführen ist, wie es das Aging-Brain Model von Cacioppo et al. postuliert, oder ob im Alter auftretende Motivationsverlagerungen für den Effekt verantwortlich sind, wovon in der sozioemotionalen Selektivitätstheorie von der oben erwähnten Gerontopsychologin Carstensen ausgegangen wird.
Konkret führt erstere den Positivitätseffekt auf eine reduzierte amygdalare Aktivität bei der Exposition mit negativen Informationen zurück. Die Abnahme der Amygdala-Funktionsfähigkeit im Alter sei für den Effekt entscheidend, weil jene eine wesentliche Rolle bei der emotionalen Bewertung von Situationen spielt. Beim Verarbeiten negativer Informationen käme es im Alter also zu weniger emotionaler Erregung und folglich zu weniger negativem Affekt – so die Grundannahme. Die sozioemotionale Selektivitätstheorie hingegen geht von einer altersbedingten Verlagerung von Lebenszielen aus: Relevant sei die wahrgenommene Zeitperspektive eines Individuums auf sein eigenes Leben. Im höheren Alter erachten wir unsere Zeitperspektive kürzer als früher im Leben – wir werden uns unserer Sterblichkeit bewusster –, womit zukunftsbezogene Ziele (wie das Fördern unserer Karriere), relativ zu gegenwärtigen Zielen (wie dem Pflegen wichtiger Beziehungen), an Bedeutung verlieren. Im Alter liegt unser Fokus also mehr auf der Erfahrung von emotionaler Bedeutsamkeit und dem Erreichen von Zufriedenheit. So erklärt die Theorie auch den Positivitätseffekt: Da ältere Menschen mehr als jüngere nach momentanem Wohlbefinden streben, lenken sie ihre Aufmerksamkeit bewusst auf Positives, während Negatives weniger verarbeitet wird.
Die gegenwärtige Befundlage
Die wissenschaftliche Befundlage zu den beiden Theorien spricht gesamthaft klar für die zweite, motivationale Theorie und weniger für die Defizit-Theorie. Studien zeigen, dass sich der Positivitätseffekt bei älteren Menschen aufhebt, wenn sie zusätzlich zu der den Effekt untersuchenden Aufgabe weitere Aufgaben lösen müssen und damit zu einer weniger bewussten Verarbeitung gezwungen sind. Daraus lässt sich ableiten, dass es sich beim Effekt nicht um einen automatischen Prozess handelt, wie es das Aging-Brain Model vermuten liesse, sondern um einen bewussten Prozess. Auch wird aus fMRI-Studien ersichtlich, dass die Amygdala bei gesunden älteren Menschen teilweise ähnlich aktiviert werden kann wie bei jüngeren – etwa in potenziell gefährlichen Situationen. Es ist also nicht davon auszugehen, dass die Amygdala mit zunehmendem Alter gar nicht mehr durch negative Stimuli aktiviert werden kann, sondern eher, dass die Amygdala-Aktivität je nach Situation durch eine Involvierung des Präfrontalen Kortex herunterreguliert wird. Dieser ist essenziell für die kognitive Kapazität, Handlungssteuerung und Impulskontrolle – ein weiteres Indiz für die Bewusstheit des Effekts. Auch wird die Theorie durch Studien unterstützt, die herausfanden, dass sich sowohl ältere als auch jüngere Probanden stärker auf emotionale Ziele und gegenwärtige, positive Erlebnisse konzentrieren, wenn sie ihrer Sterblichkeit bewusst gemacht werden – also eine limitierte Zeitperspektive erfahren. Letztlich beweisen Befunde zu der direkten Verknüpfung zwischen Effekt und Affekt, dass der Fokus auf Positives tatsächlich mit positiveren Gefühlen und ein positiverer Affekt wiederum mit gesundheitlichen Vorteilen assoziiert ist. Damit schliesst sich der Kreis zu dem Befund, dass ältere Menschen gesamthaft eher glücklicher sind als jüngere.
Es wird an den Genen liegen!
Zusätzlich zu der Studienlage zu den beiden Theorien wurden vor allem im letzten Jahrzehnt weitere Arbeiten veröffentlicht, die weitere Einflüsse auf den Positivitätseffekt untersuchten – so zum Beispiel jene von Mammarella et al. zu genetischen Erklärungen für den Effekt. Neben emotionalen, motivationalen und kognitiven Erklärungen spricht der Autorschaft zufolge immer mehr Evidenz für ein genetisches Profil, welches einige ältere Erwachsene anfälliger für die Verarbeitung positiver Informationen macht als andere. Auch knapp 30 Jahre nach der ersten Benennung des Phänomens scheint die empirische Forschung zu dem Effekt also noch lange nicht abgeschlossen!
Was lässt sich dennoch schon jetzt aus der gegenwärtigen Befundlage schliessen? Erstens (an meine gleichaltrige Leserschaft): Freuen Sie sich! Die Zukunft wird wohl doch etwas rosiger, als es mediale Stereotype vermuten liessen. Zweitens (an meine ältere Leserschaft): Freuen Sie sich! Die Gegenwart ist wohl doch etwas rosiger, als es mediale Stereotype vermuten liessen. Drittens (an meine ganze Leserschaft): Es ist sinnvoll, sich ab und zu die eigene Sterblichkeit bewusst zu machen und damit den Fokus auf die Bedeutsamkeit der Gegenwart und deren positive Erlebnisse zu lenken (lesen Sie dazu auch unseren Blogeintrag «Zu warm und wieder mit Verspätung»). Und viertens: Wenn Ihnen dies nicht gelingt, ist es nicht Ihre Schuld – es wird wohl an den Genen liegen.
Giulia Stotz, M.Sc. Psychologin, Personalentwicklerin
Literaturverzeichnis
Bild von Stocksnack auf Pixabay (https://pixabay.com/de/photos/menschen-alte-mann-frau-paar-2583943/)
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